LEUGNE ALLES UND VERZEHR ES

(Eine Reportage*)


Im vergangenen Jahr wurden in Deutschland über vierzig Millionen männliche Küken kurz nach dem Schlüpfen vergast oder geschreddert. „Ich bin also nur ein kleiner Teil des Systems“, sagt Vince** und zuckt dabei kurz mit seinen Schultern.

Im Hintergrund sind laute Maschinen zu hören.

Es wird gearbeitet.

Es riecht nach Blut.

„Warum sollte man den Kindern erzählen, wo das Fleisch im Supermarkt herkommt? Dieses ergibt für mich keinen Sinn. Einfach kaufen und verzehren. Kann doch nicht so schwer sein. Nicht immer so viele Fragen stellen. Was und wie produziert wird, ist alles legal.“

Tatsächlich hat Vince damit größtenteils recht, denn die Zahl der Tiere, die innerhalb Deutschlands zu Schlachthöfen transportiert werden, ist in den letzten Jahren um ein Vielfaches gestiegen. Die grenzüberschreitenden Transporte nehmen sogar zu.

Deutschland exportiert mehrere Millionen Tiere innerhalb der EU. Die Mehrzahl der Tiertransporte führt zum Schlachthof. Über 80 % dieser Tiere sind erst wenige Monate alt.

Ein verschmitztes Lächeln ist bei Vince zu erkennen.

„Tiere sind nicht nur unsere Nahrung. Nein, sie sind viel mehr: Sie sind pures Kapital und wichtig für menschliche Erkenntnisse. Oder sollen wir an unseren Kindern Dinge testen?“

Worauf Vince hinaus möchte, ist, dass die Anzahl von Tierversuchen in Deutschland konstant hoch ist. Millionen Tiere werden für wissenschaftliche Zwecke verwendet und sogar häufig ohne vorherige Tests getötet, denn Versuchstiere werden in Überschuss in den Laboren gezüchtet und häufig nach der Geburt sofort getötet, wenn sie aus Forschersicht nicht das richtige Geschlecht oder die gewünschte Erbinformation aufweisen. Viele der Versuchstiere werden sogar mehrmals für Tierversuche verwendet.

Vince gestikuliert jetzt stark.

„Reue? Wieso Reue? Ich gehe nur einem Job nach. Ich habe schließlich eine Familie zu ernähren und muss meine Miete genauso bezahlen, wie jeder andere auch. Und außerdem geht es hier nicht um Reue. Es geht um Gewinnmaximierung und Zahlen. Nicht mehr und nicht weniger. Mein Job ist im Grunde wie jeder andere Beruf. Und wenn ich nicht diesen Job mache, dann würde ihn ein anderer ausüben.“

Eine Stille stellt sich plötzlich ein. Für einen Moment hat es den Anschein, dass hier nichts Ungewöhnliches passiert. Doch der Geruch von Blut bleibt. Wahrscheinlich bleibt er für immer.

Die Arbeiter machen Pause.

„Töten macht hungrig“, witzeln zwei der Angestellten.

Natürlich ist Wurst auf den belegten Broten.

„Was soll ich denn sonst aufs Brot machen? Tofu?“, lacht ein anderer und beißt in sein belegtes Brot.

In Deutschland leben etwa sieben Millionen Vegetarier. Mindestens 800.000 davon ernähren sich vegan. Tendenz steigend.

„Es ist doch unterm Strich egal, mit was ich mein Geld verdiene. Arbeit ist Arbeit“, resümiert einer der Arbeiter und zwei weitere stimmen kopfnickend zu.

Damit liegen die Arbeiter voll im Trend. Seit dem Jahr 2013 steigt die Anzahl der Beschäftigten im Fleischverarbeitungsgewerbe. Waren es im Jahr 2013 circa 105.747 Beschäftigte, sind es 2019 bereits über 128.184 Beschäftigte. Mit einem Ausländeranteil von satten 23 %. Die Antwort der Regierung enthält keine Angaben zur Bedeutung von Leiharbeit und Werkverträgen in dieser Branche. Das Arbeitsministerium erklärt immer wieder auf Nachfragen diesbezüglich, dass keine genauen Informationen konkret vorliegen würden.

Doch egal wie die Regierung auf dieses Thema reagiert, es ist nicht von der Hand zu weisen, dass diese Branche seit Jahren stetig boomt.

„Die Menschen sollen nichts leugnen, sie sollen nur nicht so kleinkariert sein. Und die Tiere haben auch außerhalb so ihre Probleme“, spricht ein Arbeiter.

Im vergangenen Jahr mussten sich Tierschutzorganisationen um fast 4000 Fälle von Tierquälerei oder Tiermissbrauch kümmern. Dabei handelte es sich überwiegend um Tiere, die durch Menschenhand in Not geraten waren. Die Zahl der Fälle stieg insgesamt um 7,5 %.

Kurz danach ist die Pause wieder vorbei.

Die Arbeit ruft. Oder die Tiere schreien. Wie man´s nimmt.

„Ich kann die Welt nicht ändern. Niemand kann die Welt verändern. Die Tiere bekommen meist von alledem nichts mit. Und sie sind noch in Gesellschaft mit ihresgleichen. Niemand von denen ist einsam“, sagt Vince mit beruhigender Stimmlage.

In der Massentierhaltung leben und sterben allein in Deutschland Millionen Tiere pro Jahr. Die meisten Tiere werden gewaltsam den Gegebenheiten angepasst. Hörner, Zähne oder Schnäbel werden häufig ohne jegliche Betäubung abgetrennt. Um die Tiere auf dem Maximum zu halten, ist eine regelmäßige Abgabe von Antibiotika zur Normalität und gängige Methode geworden. Bewegungsfreiheit sowie Grundbedürfnisse der Tiere werden häufig ignoriert.

Viele Menschen gehen mittlerweile in die Öffentlichkeit, um wachzurütteln oder zu informieren. Im November 2019 gingen in Hamburg mehr als 13.000 Menschen auf die Straße um gegen Tierversuche zu demonstrieren.

Doch für die anwesenden Polizisten ist jede Demonstration immer gefährlich, denn es gibt Demos, die haben von vornherein ein latentes Gewaltpotential und bei anderen ist es dann wiederum überraschend, da es die Polizei dort nicht erwartet hat.

„Man muss sich jedes Mal vor Ort überraschen lassen“, sagt ein Polizeisprecher diesbezüglich.

Doch egal, wie sehr der Mensch ein Tier ausbeutet, einpfercht oder domestiziert, dieses Tier wird den Menschen niemals hassen.



*Geschrieben von David Reinhold (DR)

 

**Name wurde geändert