Der Preis der modernen Welt
(Kurzgeschichte)
Der Mann blinzelt. Eben noch hat er auf seinem Smartphone geschaut und jetzt steht er auf einer Wiese, umgeben von Felsen und Kiefern, die wie aus einer anderen Zeit wirken. Die Luft ist frisch und klar. Keine Spur von Hektik, Straßenlärm oder Abgasen. Verwundert schaut er sich um, als er in der Ferne eine Gestalt bemerkt, die sich langsam auf ihn zubewegt. Es ist ein Mann mit kräftigen Gliedern und einer breiten Stirn. Es ist ein Neandertaler.
Der Neandertaler bleibt vorsichtig stehen, beäugt ihn neugierig, bevor er ihn anspricht: „Du siehst seltsam aus, Fremder. Woher kommst du?“
„Ich... ich komme aus einer anderen Zeit“, murmelt der Mann verwirrt und ringt nach Worten. „Aus einer Zeit, die viele, viele Jahrtausende nach deiner liegt.“
Die Augen des Neandertalers weiten sich und er neigt den Kopf zur Seite. „Eine andere Zeit? Wie sieht es dort aus? Es muss wunderbar sein, oder? Die Menschen müssen glücklich sein, mit allem, was sie haben und brauchen.“
Der Mann atmet tief durch und denkt einen Moment nach. Dann sagt er: „Nun, so wunderbar ist es leider nicht. Wir haben viel Wissen und mächtige Werkzeuge sowie Maschinen entwickelt, aber wir sind oft nicht Weise genug, sie gerecht zu nutzen. Es gibt viele Kriege. Die Menschen kämpfen, zerstören, töten einander und dieses nur für Land, Geld und Macht. Die Erde ist voller Rauch und Dreck. Die Gewässer sind voller Müll und vergiftet. Viele Tiere, die früher mit uns lebten, gibt es nicht mehr, weil wir ihren Lebensraum zerstört haben.“
Der Neandertaler sieht ihn fassungslos an und schüttelt den Kopf. „Warum tut ihr das? Ist das Leben für euch in der Zukunft nicht wertvoll?“
Der Mann nickt langsam. „In meiner Zeit zählt oft nur, was man besitzt und wie viel Geld man hat. Wer nicht stark ist oder nicht mithalten kann, ist für immer verloren. Die Arbeitswelt ist gnadenlos und die Anforderungen hoch. Wer nicht mehr leisten kann, wird einfach ausgetauscht. Die Menschen denken viel an sich selbst und selten daran, was andere brauchen.“
Der Neandertaler runzelt die Stirn und fragt: „Und die Anführer? Was machen die, wenn das Volk leidet?“
Der Mann lacht trocken. „Unsere sogenannten Anführer nennen sich Politiker, Investoren, Bänker oder Führungskräfte. Sie kümmern sich meist um sich selbst. Sie denken an ihre Macht, ihre Vorteile, ihr Geld. Sie sagen, dass sie für das Volk oder für die Arbeiterklasse da sind, aber in Wirklichkeit zählen nur ihre eigenen Interessen. Das Volk und der gewöhnliche Arbeiter sind oft allein und auf sich gestellt.“
Eine Pause entsteht, in der beide schweigen. Der Neandertaler blickt den modernen Mann lange an, als würde er ihn prüfen. Schließlich spricht er leise: „Warum lebt ihr so und ändert nichts?"
Der Mann sieht in die Ferne, den Schmerz in seinen Augen eingebrannt. „Wir wissen nicht mehr, wie wir etwas ändern oder verändern können. Das System ist zu stark, zu fest verwurzelt, zu festgefahren und zu einseitig. Jeder glaubt, er müsste nur für sich selbst kämpfen, um zu überleben. Und in dieser Angst und Gier vergessen wir, wie man zusammenlebt, wie man teilt und schützt.“
Der Neandertaler seufzt und legt eine Hand auf die Schulter des Mannes. „Vielleicht wäre es besser, wenn ihr nicht so weit gekommen wärt und Neandertaler geblieben wärt.“ Der Mann nickt nachdenklich. „Ja“, flüstert er. „Vielleicht wäre es das wirklich.“
"Bleibe bei uns", bietet der Neandertaler an. Doch der Mann schüttelt den Kopf. "Nein, das geht nicht. Ich gehöre hier nicht her. Ich bin von der modernen Gesellschaft. Das bedeutet, ich würde euch nach kurzer Zeit alles kaputt machen."
Der Neandertaler fragt stutzend: "Aber warum? Du kennst die Probleme. Du bist nicht böse, so wie die anderen in deiner Zeit." Der Mann lächelt und antwortet: "Du verstehst nicht. Der moderne Mensch ist überwiegend dumm. Die moderne Gesellschaft ist schlichtweg zu feige, um sich intelligent zu wehren. Und ich bin ein Teil dieses Problems. Und deshalb muss ich dich verlassen und in meiner Zeit zurückkehren."
Der Neandertaler verabschiedet sich wehmütig. Der Mann nickt, dreht sich in die andere Richtung und verlässt alsbald diese Zeit-Epoche.
ENDE