Der erste Schultag

(Kurzgeschichte)

 

Der Morgen ist kühl und etwas Nebel umhüllt die Umgebung, als Henning mit seinem Sohn Chris die Straße entlanggeht. Es ist der erste Schultag und Chris trägt stolz seinen allerersten Ranzen auf dem Rücken. Seine Augen strahlen vor Aufregung und Neugier. Henning spürt die kleine Hand, die fest seine eigene hält, doch in seinem Inneren wütet ein Sturm, der nicht nach außen dringt.

Vor nur wenigen Wochen hätte er sich diesen Tag ganz anders vorgestellt. Sie wären am heutigen Tag zu dritt gewesen. Lisa hätte Chris Haare gekämmt, ihm liebevoll über die Wange gestreichelt und vielleicht sogar ein paar Tränen in den Augen gehabt, wenn sie ihn zur Schule begleitet hätte. Doch Lisa ist nicht mehr da. Sie hat die Familie einfach verlassen, ohne ein Wort, ohne eine Spur, ohne eine Erklärung. Als wäre sie nie Teil ihres Lebens gewesen. Henning hat die Suche nach einer Antwort aufgegeben. Die Ungewissheit, die er jeden Tag fühlt, ist unerträglich. Sie frisst ihn von innen auf, wie ein unaufhaltsames Feuer, welches alles verzehrt, was ihm im Weg steht.

Chris redet unaufhörlich, erzählt von den Dingen, die er in der Schule lernen möchte und von den neuen Freunden, die er treffen wird. Henning hört ihm zu, doch seine Gedanken wiegen schwer. Was, wenn ihm, der Vater, etwas zustößt? Was wird dann aus seinem Sohn? Wer wird sich um ihn kümmern? Diese Fragen bohren sich tief in seine Gedanken, wie fremde Schatten, die ihn Tag und Nacht verfolgen. Er weiß, dass er diese Gedanken abschütteln muss, aber sie lassen ihn nicht los. Es ist nicht die Angst vor dem Tod selbst, die ihn quält, sondern die Angst, Chris allein zurückzulassen in einer Welt, die so grausam und unvorhersehbar ist.

Der Schulhof ist mittlerweile in Sicht und Chris zieht seinen Vater aufgeregt mit sich. Er möchte die anderen Kinder sehen, die Lehrer sowie das Klassenzimmer. Henning lächelt mühsam, doch in seinem Inneren tobt ein Sturm. Die fröhlichen Stimmen der anderen Eltern und Kinder hallen in seinen Ohren, doch für ihn klingen sie fern und unwirklich. Sie verursachen Kopfschmerzen und Übelkeit.

Als sie schließlich vor dem Schulgebäude stehen, lässt Chris aufgeregt seine Hand los und läuft auf die anderen Kinder zu. Er dreht sich noch einmal um, winkt seinem Vater zu und verschwindet dann mit der Lehrerin im Gebäude. Henning bleibt zurück, allein mit seinen Gedanken. Er starrt auf die große Schuleingangstür, die sich hinter den Kindern schließt, als würde sie eine Barriere zwischen ihm und seiner düsteren Welt errichten.

Langsam dreht er sich um. Er bleibt alleine zurück und die Gedanken quälen ihn. Der Gedanke, dass er sterblich ist und dass er von einem Moment auf den anderen nicht mehr da sein könnte, lähmt ihn. Was ist, wenn er Chris wirklich alleine lassen muss? Wer wird dann da sein, um ihm zu helfen, um ihm zu sagen, dass alles gut wird, auch wenn nichts mehr gut ist? Der Gedanke, dass sein Sohn vielleicht genauso verlassen und verloren sein könnte wie er selbst, ist für ihn unerträglich.

Alles scheint stillzustehen, als Henning die Zeit bis zum Schulschluss verbringt. Er setzt sich auf eine Bank nahe der Schule, fern von den anderen Eltern, die ebenfalls vor dem Schulgebäude aufgeregt auf ihre Kinder warten. Henning starrt in die Leere. Die Uhr tickt unerbittlich weiter und mit jeder vergangenen Minute fühlt er, wie seine Seele ein wenig mehr in den Abgrund sinkt. Er versucht, an die Zukunft zu denken, doch alles, was er sieht, ist ein schwarzes Loch, das all seine Hoffnungen verschlingt.

Als die Zeit des Wartens vorbei ist und er Chris aus dem Schulgebäude kommen sieht, spürt Henning einen winzigen Funken Hoffnung. Chris lacht, er ist aufgeregt sowie glücklich. Er hat neue Freunde gefunden und seine Gedanken sind voller Geschichten von seinem ersten Schultag. Henning nimmt seine Hand und sie gehen nach Hause.

„Papa?“, fragt Chris plötzlich und Henning blickt zu ihm hinunter. „Liest du mir heute Abend wieder was vor?“

Henning muss schlucken, bevor er antworten kann. „Ja, mein Junge. Ich lese dir heute Abend vor. Ich verspreche es.“

Den Rest des Weges redet Henning nicht, sondern hört seinem Sohn zu, wie er von seinem ersten Schultag aufgeregt erzählt. Und Henning hofft, dass vielleicht, nur vielleicht, der morgige Tag für ihn persönlich ein wenig hoffnungsvoller sein wird.

 

ENDE