Das letzte Licht
(Ein Weihnachtsmärchen)
Es ist ein kalter Dezemberabend in einer kleinen Stadt. Der Schnee liegt wie ein weiches Tuch über den Straßen und bunte Lichter flackern von den Fenstern der Häuser. Doch für Elias, einen jungen Mann mit zerzausten Haaren und zerschlissener Kleidung, bedeutet dieser Anblick wenig. Er sitzt auf einer Parkbank, die verschließenden Hände in den kaputten Manteltaschen vergraben und blickt ins Nichts.
Elias hat vieles verloren. Vor drei Jahren verlor er durch die Wirtschaftskrise seinen Job. Daraufhin verließ ihn seine damalige Frau und nahm ihn alles: das Zuhause, das ersparte Geld, dadurch die Hoffnung und schließlich auch den Glauben daran, dass das Leben noch etwas Gutes bereithält. Seitdem schlägt er sich auf der Straße durch, lebt von dem wenigen, das Passanten ihm zustecken und schläft in windgeschützten Hauseingängen.
An diesem Abend, während die Stadt in vorweihnachtlicher Stille versinkt, schließt Elias die Augen und erinnert sich an vergangene Weihnachtsfeste. An die Wärme des Kamins, den Duft von Plätzchen und die fröhlichen Stimmen seiner Frau, Familie und Freunde. Ein schmerzhafter Stich durchzuckt sein Herz. Es fühlt sich an, als sei er ein Schatten seiner selbst, ein leeres Gefäß, das keine Träume mehr in sich birgt.
Plötzlich wird Elias aus seinen Gedanken gerissen. Eine helle Stimme spricht ihn an: „Entschuldigen Sie, sind Sie hungrig?“ Vor ihm steht ein Junge, vielleicht zwölf Jahre alt und mit einem hoffnungsvollen Funkeln in den Augen. Er hält ihm eine Tüte mit Gebäck hin. Elias ist überrascht. Die meisten Menschen gehen nämlich einfach an ihm vorbei. „Danke“, murmelt er und nimmt die Tüte entgegen. Der Junge lächelt und sagt leise: „Ich wünsche Ihnen tolle Weihnachten.“ Danach rennt er weg.
Diese Worte brennen sich in Elias’ Herz. Nachdem der Junge weitergezogen ist, hebt er den Kopf und sieht sich um. In den Fenstern der Häuser funkeln Weihnachtsbäume, Familien sitzen zusammen und Kinder lachen. Er fragt sich, ob es möglich ist, trotz allem wieder etwas von dieser seelischen Wärme zu spüren. Kurzdrauf schläft er in der Kälte ein.
*
Am nächsten Morgen wacht Elias mit einem neuen Entschluss auf. Er möchte sich alles von der Seele reden und macht sich auf den Weg zur kleinen Kirche am Stadtrand, deren Glocken er oft aus der Ferne gehört hat. Als er eintritt, empfängt ihn die Stille und eine wohlige Wärme. Die Kerzen flackern und tauchen den Raum in ein warmes Licht. Elias setzt sich in eine der hinteren Reihen und beginnt leise zu reden, etwas, was er seit Jahren nicht mehr getan hat. Einen direkten Gesprächspartner hat er nicht, sondern er redet sich nur alles von der Seele. Er bittet nicht um ein Wunder, sondern nur darum, dass er die Kraft findet, einen Moment des Friedens zu erleben. Und er hofft, dass seine längst verstorbenen Eltern nicht enttäuscht von ihn waren. Nachdem er sich alles von der Seele geredet hat, wird er allmählich müde.
Als er den Kopf hebt, bemerkt er eine alte Frau und einen alten Mann, die ihn mit einem freundlichen Lächeln ansehen. Die beiden setzen sich neben ihn und die Frau beginnt zu reden. Sie erzählt von ihrer Traurigkeit seit dem Selbstmord ihres Kindes und davon, dass sie und ihr Mann immer stolz auf ihr Kind waren. Egal, welche Fehler ihr Kind gemacht hat.
Elias wird immer schläfriger. Der alte Mann legt eine Decke über seine Schultern und die alte Frau bringt ihn eine brennende Kerze. "Hier, die Kerze und die Decke werden Sie wärmen", flüstert sie fürsorglich. "Danke. Ihr erinnert mich an meine Eltern...ich hatte tolle Eltern. Doch ich habe es ihnen nie gesagt", murmelt Elias leise. "Mach dir keine Gedanken, sie haben gewusst, dass du sie liebst", sagt die alte Frau sanft. Als die Glocken Mitternacht schlagen, schließt er die Augen und lächelt. Elias spürt eine unerklärliche Wärme. Es ist, als ob eine Hand sanft seine Wange berührt.
*
Am nächsten Morgen findet man Elias tot auf der Kirchenbank. Die Kerze neben ihm ist mittlerweile niedergebrannt. Sein Gesicht trägt ein stilles Lächeln.
Ende