Das Buch der Toten Namen
(Kurzgeschichte)
"Das ist nicht tot, was ewig liegen kann und in fremden Aeonen stirbt vielleicht sogar der Tod." (Auszug aus dem Necronomicon)
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Es ist eine mondlose Nacht, als die Bibliothekarin Emma in der überschaubaren Bibliothek einer kleinen Universitätsstadt im Nachtdienst arbeitet. Der Regen prasselt gegen die Fenster, als sie sich entschließt, die neu eingetroffenen Bücher zu katalogisieren. Einer der Kartons ist besonders schwer und mit seltsamen Symbolen versehen, die ihr einen kalten Schauer über den Rücken jagten.
In dem Karton befindet sich ein altes, gebundenes Buch mit vergilbten Seiten und einem Titel in fremder, krakeliger Schrift: "Necronomicon – Das Buch der Toten Namen".
Neugierig blättert sie durch die Seiten, die von rituellen Beschwörungen, Flüchen und unvorstellbaren Kreaturen erzählen. Umso vertiefter sie liest, desto unruhiger flackern die Lichter und sie meint sogar, dass sie ein flüstern wahrnimmt.
Ein Klopfen an der Tür reißt sie aus ihren Gedanken. Ein älterer Mann mit tiefen Falten und einem leeren Blick tritt ein. Er stellt sich als Professor Halford vor und bittet um Zugang zum Necronomicon. Er erklärt, dass er bereits jahrelang nach diesem Buch sucht und dass es die Antwort auf die menschliche Entstehungsgeschichte enthält.
Emma, die sich fragt, woher er weiß, dass sie gerade das Necronomicon ausgepackt hat, möchte das Buch lieber leugnen, aber Halfords Drängen und Überreden überzeugt sie schließlich. Halford setzt sich in eine Ecke der Bibliothek und beginnt, intensiv zu lesen und sich dabei Notizen zu machen. Währenddessen durchforstet Emma das Internet nach Informationen über das Necronomicon und stößt auf schreckliche Berichte von Besessenheit und Tod. Sie fragt sich, ob es ein Fehler ist, den Professor darin lesen zu lassen.
Die Nacht vergeht und seltsame Dinge beginnen zu geschehen. Die Lichter flackern, ein kalter Wind zieht durch die Gänge, obwohl alle Fenster geschlossen sind, und Emma hört immer wieder ein unbekanntes Flüstern. Plötzlich stößt Halford einen schrecklichen Schrei aus und fällt bewusstlos zu Boden.
Als er zu sich kommt, ist sein Blick emotionslos und unheimlich. Er murmelt in einer unbekannten Sprache und fremder Stimme. Plötzlich wirft er sich auf Emma und beginnt, sie mit einer Hand zu würgen. Mit der anderen Hand greift er ihr in den Schritt und fängt an, sie zu streicheln. Mit Mühe gelingt es ihr, ihn abzuschütteln und sich zu befreien.
Emma will aus der Bibliothek flüchten. Doch als sie die Haupteingangstür öffnet, erscheint vor ihr ein großer Strudel, welcher sie zu sich zieht. Emma versucht sich irgendwo festzuhalten, allerdings hat sie keine Chance und wird in den Strudel gezogen. Es ist, als ob sie durch die Zeit zurückgeschleudert wird, um die Entstehung des Necronomicons mitzuerleben.
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"Sind die Menschen plötzlich in einem bisher unvermuteten Ausmaß Opfer von Illusionen, Hysterie und Selbsttäuschungen geworden? Oder werden wir nur Zeuge der allmählichen Rückkehr jener Mächte, die Abdul Alhazred im fahlen Mondlicht in Stücke gerissen haben?" (Auszug aus dem Necronomicon)
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Die Sonne steht hoch am Himmel, brennend und gnadenlos, als Abdul Alhazred, ein einsamer Gelehrter, tief in der Wüste von Arabiens Rub' al Khali, wandert. Die Tage verschmelzen zu einem Albtraum aus Hitze und Dürre, doch getrieben von einem unstillbaren Wissensdurst und innerer Unruhe, gibt er nicht auf. In einer Nacht, als der Mond in einem unheimlichen Rot schimmert, entdeckt Alhazred eine verborgene Höhle, deren Eingang von uralten Symbolen umgeben ist.
Tief im Inneren der Höhle stößt er auf eine mächtige und dunkle Präsenz, die ihm Wissen verspricht, welche kein Sterblicher zuvor erlangt hat. Er geht den Handel ein, unwissend, dass der Preis dafür seine Seele sein wird. Innerhalb der Höhlenwände erscheint ein unnatürliches Licht und vor Alhazred manifestieren sich Wesen aus unbekannten Dimensionen. Mit gequälten Schreien und mystischen Ritualen offenbart ihm die finsteren Mächte, uralte Geheimnisse, gefährliche Zauber und die Entstehung der Menschen. Alhazred kennt nun die menschliche Entstehungsgeschichte.
Besessen und gequält von den enthüllten Wahrheiten, beginnt Alhazred das Necronomicon zu schreiben. Seite um Seite füllt er mit Beschwörungen, Symbolen und Beschreibungen der menschlichen Entstehungsgeschichte und abscheulicher Kreaturen, die jenseits der menschlichen Vorstellungskraft existieren.
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Während all der Jahre, in denen Alhazred das Buch schreibt, zieht sich ein dunkler Schatten durch die Menschheitsgeschichte. Der Fall von Babylon, die biblischen Plagen Ägyptens, das Verschwinden der Mayas oder auch das Attentat des Kaisers – alles ist dem Einfluss des Necronomicons zuzuschreiben. Die Tore scheinen für das Böse geöffnet zu sein.
Überall, wo das Buch auftaucht, hinterließ es eine Spur des Todes und des Wahnsinns. Könige und Kaiser, die nach Macht streben, Priester und Gelehrte, die nach Geld und Einfluss dürsten – sie alle fallen der dunklen Anziehungskraft des Buches zum Opfer und sterben einen schmerzhaften und grausamen Tod.
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Im Jahr 738 wird Alhazred in Damaskus auf offener Straße von unsichtbaren Bestien in Stücke gerissen. Sein Werk jedoch überlebt. Das Necronomicon gelangt in die Hände verschiedener Mächte und Geheimgesellschaften. Von den Tempelrittern bis hin zu den Alchemisten der Renaissance. Jeder, der es wagt, die Seiten zu lesen, wird entweder in den Wahnsinn getrieben oder von schrecklichen Kreaturen heimgesucht, die aus den Schatten kamen.
Männer werden bei lebendigem Leib gehäutet. Gedärme werden aus Frauen herausgerissen. Und Frauen, die Schwanger sind, wird das ungeborene Kind gewaltsam entnommen. Doch der Mensch bleibt fasziniert von dem Bösen. Die Kreaturen kennen keine Gnade. Plötzlich tritt der Schwarze Tod aus dem Dunkeln. Seine bedrohliche Aura ist eine Mischung aus Trauer und Wut. Emma fühlt sich zu ihm hingezogen. "Wer ist der Schwarze Tod?", hört Emma dumpf ihre Stimme fragen. Die Umgebung verschwimmt, verändert sich und bringt Emma an einem anderen Ort.
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Im Jahr 1347 erreicht die Pest die Küsten Europas. Binnen weniger Monate breitet sich die tödliche Seuche in einem rasenden Tempo über den Kontinent aus und hinterlässt eine Spur des Grauens und des Todes. Niemand weiß, woher die Pest gekommen ist oder wie man sie bekämpfen kann. Die Menschen sterben zu Tausenden, ihre Körper sind mit schwarzen Beulen übersät, die vor Eiter und Blut überquellen und aufplatzen.
In einem kleinen Dorf am Rande der Alpen lebt ein einfacher Bauer namens Jakob. Als die Pest in seinem Dorf wütet, verliert Jakob seine gesamte Familie – seine Frau, seine Kinder, seine Eltern – alle werden von der schrecklichen Krankheit dahingerafft. Verzweiflung und Wut erfüllen sein Herz und er verflucht die Götter, die ihm diese Qualen beschert haben.
Eines Nachts, als Jakob allein in seinem Haus sitzt und die Schreie der Sterbenden aus der Ferne hört, erscheint vor ihm eine dunkle Gestalt. Der Fremde trägt einen langen schwarzen Mantel und eine Maske, die sein Gesicht verdeckt.
"Wer bist du?" fragt Jakob mit resignierter Stimme.
"Ein Name ist in diesen Zeiten unbedeutend," antwortet die Gestalt. "Ich bin gekommen, um dir ein Angebot zu machen." Jakob, der nichts mehr zu verlieren hat und des Lebenskampfes müde ist, hört zu. Der Fremde bietet ihm die Möglichkeit, seine Familie wiederzusehen. Verzweifelt und getrieben von seiner Trauer und Wut, geht Jakob den Pakt ein. Er verspricht seine Dienste im Austausch für ein Wiedersehen mit seiner Familie.
Der Fremde gibt Jakob das Necronomicon und sagt: "In der stillen Dunkelheit der Vergangenheiten weben verlorene Erinnerungen ein unsichtbares Netz, das sich um die Seelen schlingt, während vergessene Stimmen in den Schatten wispern. Gegenwärtig tanzt das Jetzt im flüchtigen Licht des Augenblicks, ein flirrendes Echo der Möglichkeiten, die in der Luft hängen wie flüchtige Träume. Die Zukunft wartet im Nebel des Unbekannten, ihre Geheimnisse vergraben in der Unendlichkeit der Zeit. Wer den Schleier der Beschwörung lüftet, möge sich hüten, denn jedes Wissen ist Fluch und Segen zugleich und wird das Leben für immer verändern."
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"Erinnere dich daran, dass die Essenzen der Alten in allen Dingen sind, aber dass die Essenzen der Älteren Götter in allem, was lebt, sind. Hüte dich vor den Kulten der Toten." (Auszug aus dem Necronomicon)
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In einer Nacht vollzieht er die Beschwörung. In dem Moment, als das Ganze vollendet ist, durchströmt eine dunkle Macht Jakobs Körper. Er fühlt, wie seine Menschlichkeit erlischt und eine neue, unheimliche Kraft in ihm erwacht. Seine Haut wird schwarz wie Ebenholz und seine Augen glühen rot wie Glut.
Während seiner Verwandlung sieht er für einen kurzen Augenblick seine Familie. Kurzdrauf verschwinden sie wieder. "Nein! Du hast mich angelogen!", schreit Jakob voller Wut und Schmerzen. "Das habe ich nicht. Du hast deine Familie wiedergesehen. Und damit habe ich mein Versprechen eingehalten", spricht eine Stimme aus der Dunkelheit. Kurzdrauf ist er nicht mehr Jakob, der Bauer. Er ist zu einem Wesen der Finsternis geworden – einem Dämon der Wut.
Und somit ist der Schwarze Tod eine ewige Bedrohung. Ein Dämon, geboren aus Verzweiflung, Wut und Rache, dessen Fluch die Welt niemals loswerden kann.
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Als die Vision endet, liegt Emma zitternd auf dem Boden. Nach etlichen Minuten kann sie schließlich wieder aufstehen. Emma dreht sich um und blickt zur Bibliothek. Die Bibliothek liegt in Trümmern. Bücher sind liegen überall verteilt, Möbel sind zertrümmert und Professor Halford ist verschwunden. Emma sucht verzweifelt nach dem Necronomicon, doch das Buch ist ebenfalls weg.
Sie berichtet das gesamte Geschehen der Polizei, die ihr jedoch nicht glaubt und es als eine Verkettung unglücklicher Zufälle abtut. Niemand will etwas über das Necronomicon hören und jede Erwähnung des Buches wird müde belächelt.
Seitdem lebt sie mit einem mulmigen Gefühl, wissend, dass das Böse weiterhin in der Welt lauert und nur darauf wartet, erneut entfesselt zu werden. Sie weiß, dass irgendwo da draußen das Necronomicon erneut auftauchen und neues Unheil bringen wird, denn die Menschen sind vom Bösen fasziniert.
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"Denn dieses ist das Buch der Toten, der Schwarzen Erde und der Toten Namen, welches ich unter Lebensgefahr niedergeschrieben habe, genauso, wie ich es erhielt. Und alle, die das Buch lesen, sollen hiermit gewarnt sein." (Auszug aus dem Necronomicon)
ENDE
*Diese Geschichte widme ich einer Person, welche mir eine große Hilfe war. Deine Unterstützung, dein Verständnis und deine ehrlichen Worte haben diese Geschichte erst möglich gemacht. Auch wenn deine Identität ein Geheimnis bleibt, weißt du, dass diese Worte nur dir gewidmet sind. (DR)